Handbuch


Moralischer Pragmatismus

Auch: Ethischer Egoismus
Etwas mit Eigennutz begründen


Eigene Interessen zu wahren ist grundsätzlich nicht verwerflich. In allen persönlichen Entscheidungen müssen sie zwangsläufig eine Rolle spielen, aber auch in Fragen größerer Reichweite hat Eigennutz einen Platz. Sobald man von einer Sache betroffen ist, besteht ein berechtigtes Interesse, mit seinen Bedürfnissen berücksichtigt zu werden. Selten berührt eine Thematik jedoch nur die eigene Person (und wenn ja, so gibt es wenig Anlass, darüber mit anderen zu diskutieren). Eigeninteresse muss also in der Regel anderen Interessen gegenübergestellt und in Kontext gesetzt werden. Wer das nicht tut, tritt in der Diskussion als Lobbyist in eigener Sache auf und setzt sich damit selbst in eine Rolle, in der man zwar angehört, aber mangels Objektivität nicht an Entscheidungen beteiligt werden sollte (→Betroffenheit). Für eigene Bedürfnisse zu streiten und einzustehen ist wichtig, wo sie berechtigterweise eine Rolle spielen; die Interessen anderer müssen aber als ebenso valide und entsprechend ihrem Stellenwert in der Debatte anerkannt werden.

Ein Appell an den Eigennutz des Gegenübers hingegen ist eine sehr überzeugungsstarke →Suggestion.


Wann wendet man das an?

Jede Handlung oder Entscheidung einer Person kann letztendlich auf deren Bedürfnisse zurückgeführt werden. Ausgehend von äußeren Umständen wägen wir lang- und kurzfristige Ziele gegeneinander ab oder geben einzelnen impulsiv Vorschub. Dazu zählen jedoch auch abstrakte Werte wie Fairness, Ehrlichkeit oder durch Empathie geweckte Wünsche nach dem Wohlergehen anderer. Vielen Menschen ist wichtig, sich selbst als moralisch gut anzusehen oder aber sich anderen gegenüber so darstellen zu können. Werturteile der eigenen Bezugsgruppe spielen ebenso eine Rolle wie ethische Grundüberzeugungen oder materielle Wünsche. Auf diese Weise ist letztlich alles Eigennutz - auch Entscheidungen, die einem auf den ersten Blick eher schaden, dienen Bedürfnissen, die diesen Schaden subjektiv aufwiegen.

Oft ist die Grundlage dafür, etwas als richtig zu betrachten, weil man davon profitiert, oder als unwichtig zu betrachten, was einen nicht betrifft, unbewusst. Es wird persönlich als gut empfunden, was einem selbst gut tut. Wir können zwar leicht begründen, warum wir auf eine bestimmte Weise gehandelt haben, die Entscheidung dazu fällt jedoch meist intuitiv. Manchmal steht auch der →Wunsch, etwas zu glauben, am Anfang von daraufhin konstruierten Rechtfertigungen, es zu glauben.

Wessen Bedürfnisse in einer Diskussion zulässig sind, kommt auf die Fragestellung der Diskussion und die betreffenden Bedürfnisse selbst an. Ob eine Aussage etwa wahr oder falsch ist, wird von persönlichen Befindlichkeiten nicht berührt. Ob wiederum etwas moralisch richtig oder falsch ist, liegt nicht nur im Auge des Betrachters, sondern ist auch abhängig von den Auswirkungen der Sache auf Menschen, zu denen man natürlich auch selbst zählen kann, und abstrakten ethischen Werten, wie die Interessen zukünftiger Generationen, dem Tier- oder Naturschutz. Wichtig ist, diese anderen Personen und Werte zu identifizieren und zu beurteilen, welchen Rang die eigene Person unter ihnen belegt.

Die Argumentation mit persönlichen Bedürfnissen ist dann besonders wirkungsvoll, wenn man z. B. durch →Mitleidsargumente beim Gegenüber Empathie wecken kann oder stellvertretend für andere und deren Interessen eintritt, da der Vorwurf des Egoismus im letzen Fall nicht haltbar ist.


  • „Ich verstehe nicht, wo unsere Werbung sexistisch sein soll. Wir haben großen Verkaufserfolg damit.“
  • „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“
  • „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht.“

Was tut man dagegen?

Nicht immer entstehen im Kern egoistische Begründungen bewusst. Die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse (die, wie oben beschrieben, auch sozialer oder altruistischer Natur sein können) hat naturgemäß den höchsten Stellenwert für jeden Einzelnen, aber wenig für andere. Was einem selbst als gutes Argument erscheint, muss für andere nicht relevant oder überhaupt wahr sein. Die Eröffnung weiterer abweichender Perspektiven kann also durchaus ausreichen, um den Horizont zu erweitern und ein Umdenken einzuleiten. Der Appell an Bedürfnisse wie Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit oder sozialen Frieden kann den Gesprächspartner zugänglich für ein solches Umdenken machen. Die Bereitschaft, auch auf eigene Kosten das moralisch Richtige zu tun, ist jedoch individuell sehr unterschiedlich verteilt. Wo eine pathologische Unfähigkeit besteht, eine Moral anzuerkennen, die nicht in erster Linie eigenen Interessen dient (→Ignoranzargument), kann eine Störung der dunklen Triade angenommen werden. Solche Menschen sind nur zugänglich für Argumente, die sie vor anderen schlecht dastehen lassen, wenn sie ihre Meinung nicht ändern, oder die ihre Interessen in den Vordergrund stellen, indem der direkte Nutzen für sie aufgezeigt wird. Neben materiellem Nutzen dienen soziale Werte wie die Vermeidung von Konflikten oder Demonstration von Stärke oder Tugend als starke Motivatoren.

Der Egoismus des Gesprächspartners kann natürlich auch direkt angegriffen werden. Werden andere Personen und ihre Bedürfnisse ignoriert oder abgelehnt, allein weil sie eben nicht der Gesprächspartner sind oder zu dessen Bezugsgruppe gehören, liegt eine →Doppelmoral vor, die gezeigt und kritisiert werden kann.

Gilt es nicht nur das Gegenüber, sondern mehrere Gesprächspartner, Zuhörer oder Leser zu überzeugen, kann man →Missgunst auf das Gegenüber wecken, um die Bereitschaft anderer zu senken, dessen persönlichen Wünschen Gehör zu schenken.

Die Argumentation mit Eigennutz gibt darüber hinaus hervorragend Gelegenheit, den eigenen Standpunkt als objektiv und differenziert darzustellen. Moralischer Pragmatismus stellt immer eine subjektive Perspektive dar und kann nur für den gelten, der sie vorbringt, oder maximal für diejenigen, die auf die gleiche Weise wie der Gesprächspartner profitieren würden und diesem angenommenen Profit zudem den gleichen Wert zuweisen. Für andere ist ein solches Argument jedoch wertlos und auf sie nicht anwendbar. Konfrontiert mit dieser einseitigen Perspektive ist die lohnendste Frage, wem - im Gegensatz zum Gegenüber - die diskutierte Sache nicht nutzt oder sogar schadet. Dessen (eventuell vermutete oder unterstellte) Perspektive kann dann als Gegengewicht zur Diskussion gestellt werden.


  • „Das werden Ihre Wähler sicher nicht gern sehen.“
  • „Für deinen Sohn wäre das sicher eine gute Referenz, aber unsere Homepage sollten wir doch lieber professionell umsetzen lassen.“
  • „Andere Leute sind auch arm und nehmen trotzdem den Obdachlosen kein Essen weg. Die brauchen diese Spenden nun mal dringender als du.“